1. Teil Regelwerk: Neue Regelsysteme – Entwicklung oder Rückschritt?
von Bert Obernosterer
Bevor wir in die reflexartige Vorteil-/Nachteil Diskussion unterschiedlicher Regelsysteme abgleiten, möchte ich erst eine Grundannahme in den Raum stellen.
Die Form eines jeden Wettkampfs wird meiner Meinung nach vor allem durch zwei Aspekte definiert. Einerseits das Reglement. Andererseits die gesellschaftlichen Gegebenheiten. Nehmen wir uns zur Veranschaulichung doch ein Beispiel aus der Geschichte.
Wir befinden uns in der Mitte des 18.Jahrhunderts, irgendwo in Frankreich. Ein Offizier wurde von einem anderen in dessen Ehre beleidigt und um diese Angelegenheit zu klären wird ein Duell vereinbart. Dieses Mal geht es nicht aufs erste Blut, sondern beide Kontrahenten einigen sich darauf, auch den Tod des Anderen billigend in Kauf zu nehmen.
Das Duell beginnt; vorsichtig tasten sich beide ab, deuten Finten an. Der erste Stich wird gesetzt! Parade! Riposte! Und mit einem geschickten Konter bohrt sich ein Degen in die Brust des somit Besiegten. Noch auf der Wiese verstirbt der Unglückliche an einer perforierten Lunge.
Szenen wie diese gehörten zum gesellschaftlichen Leben und waren, wenn auch nicht alltäglich, so doch nicht unüblich. Jedoch auch hier, bei einem Duell bis zum bitteren Ende, gab es Regeln und Gepflogenheiten. So war es verpönt, dem anderen ans Gesicht bzw. ins Ringen zu gehen. Die Brust, der Bauch und andere letalen Stellen waren als Ziel hingegen vollkommen in Ordnung. Die Idee dahinter war, dass man keine „schiache Leich“ hinterlassen wollte, wie der Wiener sagen würde.
Wenn wir uns die Geschichte des Kampfsports, sei es zum geselligen Zeitvertreib, oder aber zum Einsatz im Ernstfall ansehen, so fallen uns immer wieder Eigenheiten in der Anwendung auf (wie zum Beispiel die fehlenden Stiche ins Gesicht), die objektiv keinen Grund zu haben scheinen, da sie ja eigentlich effektiv wären. Der Grund liegt so gut wie immer in den gesellschaftlichen Gepflogenheiten.
Machen wir einen Zeitsprung in die Gegenwart. Glücklicherweise ist uns der Kampfsport im Laufe unserer Geschichte erhalten geblieben und läuft heutzutage auch wesentlich ungefährlicher ab. Aber auch jetzt noch werden die Künste des Mars durch eben diese beiden Aspekte definiert: Den Regeln und der gesellschaftlichen Rezeption.
Will man heutzutage ein Wettkampfformat entwickeln, wird man unweigerlich mit diesen beiden Punkten konfrontiert werden. Von der IBJJF bis hin zur Hintertupfinger Grappling League wird jeder Veranstalter versuchen das bestmögliche Event auf die Beine zu stellen. Dieses soll Regeln beinhalten, die einerseits eine hohe Qualität der Kämpfe garantieren, andererseits das Ganze möglichst öffentlichkeitsvertretbar gestalten.
Zu Letzterem gehört eindeutig die Mischung aus spektakulär und sicher.
Stellen wir uns ein oldschool-Vale Tudo-Match vor. Abgesehen von einigen Kampfkunstpuristen auf der einen und gewaltaffinen „Just-Bleed“ Jüngern auf der anderen Seite, würde das nicht allzu viele Zuseher in die Halle locken – abgesehen davon, dass es sicherheitstechnisch schwer argumentierbar wäre.
Im Grappling und im BJJ sind wir mit anderen Herausforderungen konfrontiert. Jeder, der öfters auf der Matte mit Freunden und Trainingspartnern gerollt hat, kennt die Begeisterung und die Katharsis nach einer anstrengenden Sparringsrunde. Für Außenstehende ist es meistens jedoch ungefähr so interessant wie Farbe beim Trocknen zuzusehen.
Ich erinnere mich noch an den verwirrten Blick meiner Mutter, als ich ihr meine ersten Wettkämpfe gezeigt habe. Der Kampf war zu abstrakt, zu langweilig. Viel Positionsspiel und wenig Action.
Wäre mehr Bewegung passiert, hätte sie es glaube ich interessanter gefunden. So etwa wie Wechsel der Positionen, Würfe; „cooles Zeug“ eben.
Unter dem Regelsystem damals hätte jetzt aber spektakuläres Herumhüpfen nicht viel Sinn gemacht. Noch zwei Minuten, und ich war mit den Punkten weit vorn. Warum also alles riskieren? Ob die zehn Leut‘ die mit einem faden Gesicht am Mattenrand sitzen mich anfeuern oder gelangweilt ins Nichts starren, war mir nun wirklich egal.
Und genau hier stehen wir an der entscheidenden argumentativen Weggabelung, an der sich die Meinungen trennen. Wollen wir den Kampf fürs Auge ansehnlich gestalten, oder dem Kämpfer möglichst alle Möglichkeiten geben, nach seinem Gutdünken den Kampf voran zu treiben? Letzteres geht in fast jedem Fall auf Kosten des Unterhaltungswertes für alle Umstehenden.
Sobald wir in ein Extrem kippen, gibt es beinahe immer ein Ungleichgewicht.
Beispiel A: Zuseherfreundlich bis zum Extrem (Showwrestling)
Einst ein potenter Kampfsport (Catch-as-Catch-can) mit einer Vielzahl an funktionalen Aufgabegriffen und Würfen, wurde Wrestling im Laufe des letzten Jahrhunderts zur choreographierten Show. Unterhaltsam, jedoch ist von der einstigen Kunst (zumindest in den großen amerikanischen Ligen) nicht mehr viel übergeblieben. Die Athletik ist gestiegen, keine Frage, jedoch mit der ursprünglichen Variante hat die moderne nicht mehr viel gemein.
Beispiel B: Ohne Schnörkel; alles für die Kämpfer (Submission only ohne Zeitlimit)
Zwei Körper sind eng umschlungen, die Beine sind verknotet; Endstation 50/50. Ein Fehler und der Gegner hat das Bein und zieht daran. In 5 Minuten-Abschnitten klickt man das ereignislose Video weiter, bis schließlich nach 90 Minuten endlich einer aus Erschöpfung einen Fehler begeht.
Purer geht’s kaum, langweiliger allerdings auch nicht.
Man sieht an diesen Beispielen das Dilemma und die Schwierigkeit, beide Extreme unter einen Hut zu bringen. Unterschiedliche Organisationen sind das Problem von verschiedenen Seiten aus angegangen.
Die IBJJF agiert eher kämpferorientiert mit einem starren Punktesystem und engem Regelkorsett, die ADCC mit offenen Regeln und einer Mischung aus „macht’s was ihr wollt – keine Punkte“ zu Beginn des Matches und im weiteren Kampfverlauf einer dynamische Punktevergabe. Metamoris mit 20 Minuten Submission only und so weiter.
Für mich als Athleten stellt sich die Frage nach dem Ziel. Was will ich? Möchte ich möglichst viele Wettkämpfe absolvieren und dafür auch gezielt trainieren, steht der Selbstverteidigungsaspekt an oberster Stelle, oder betreibe ich den Sport aus Spass an der Bewegung?
Soweit eine kurze Einleitung zu unserem Thema. In den kommenden Monaten werde ich das Thema wieder aufgreifen und mir die jeweiligen Regelsysteme im Detail ansehen.
Viel Spass auf der Matte,
Bert